Prokhor Zakharov verließ den Verbindungsgang
und betrat Deck 3, wo er einquartiert war. Tatsächlich hatte er darauf
bestanden, lieber hier Quartier zu beziehen, als in der Nähe der
Kommandozentrale zu schlafen. Captain Garland hatte keine Einwände
geäußert. Es sprach schließlich auch nichts dagegen. Im
Gegenteil: Je mehr Zeit er bei seinen Ingenieuren verbrachte, desto schneller
würde er das Schiff reparieren können.
Er betrat das Erholungsdeck. Kaum jemand schien hier zu sein; einige seiner
Wissenschaftler spielten in einer Ecke des Decks eine Partie Holodarts. Der
fehlende Schlaf war allen anzumerken. Der Großteil seiner Leute arbeitete
oder schlief den ganzen Tag. Viele von ihnen nahmen Drogen zur
Leistungssteigerung ein, um wenigstens einige Stunden wach zu bleiben. Verloren
die Drogen jedoch ihre Wirkung, versanken sie in eine Art Tiefschlaf.
Er ging weiter in die Schlafquartiere. Die Kältekapseln waren inzwischen
mit Schaum ausgegossen und auf diese Weise in Betten verwandelt worden. Der
Großteil der Kapseln war leer, doch hier und dort schlummerten noch
einige Menschen in den Kapseln. Hier lagen auch einige Leute des
nicht-wissenschaftlichen Personals von Deck 3 - vor allem Sicherheitsmänner
und Ärzte. Ihre schlafenden Gesichter wirkten wesentlich entspannter
als die Minen der unter Hochdruck arbeitenden Wissenschaftler.
Zakharov steuerte eine ganz bestimmte Kältekapsel an -- Aha.
"Raymond." Sein Freund war wach und starrte ausdruckslos auf die niedrige,
dunkle Decke des Decks. Langsam schien er Zakharov zu erkennen.
"Officer." Er setzte sich rasch auf. "Ist alles in Ordnung?"
"Ja." Der Klang des Wortes hallte in seinem Kopf wider. Angesichts des
zerfallenden Schiffes war 'in Ordnung' eine relativ gewagte Aussage. "Ich
werde ein Täßchen Tee trinken, bevor ich mich zurückziehe.
Möchtest du mir Gesellschaft leisten?"
"Natürlich, Officer. Ich kann ohnehin nicht schlafen."
Zakharov wandte sich einem hinteren, abgetrennten Bereich des Decks zu. Hier
hatte er sich ein notdürftiges Quartier eingerichtet. Neben der
Kältekapsel, die ihm als Bett diente, standen ein kleiner weißer
Metalltisch und zwei Stühle. Auf einem kleinen Sims standen ein roter
Krug aus Plastik und eine Art Tauchsieder.
"Setz Dich", er deutete auf den Tisch. Raymond strich sich mit seinen
Händen durch das weiße Haar und ließ sich langsam nieder.
Er hatte etwa Zakharovs Alter. Beide Männer waren seit Jahren enge Freunde.
Zakharov tauchte den Tauchsieder in den Krug und warf zwei kleine Teekapseln
hinein. Dann drückte er die Play-Taste der kleinen Audio-Anlage. Sanft
setzte Bach ein und verbreitete in dem kleinen Raum eine beruhigende
Atmosphäre. Zakharov schloß die Augen.
"Ich liebe diese Musik ... vor allem in schweren Zeiten. Ich stelle mir vor,
die Wellen der Melodie tragen mich an einen besseren ... ruhigeren Ort."
Zakharov brach seinen Gedanken abrupt ab.
Raymond nickte. "Wunderbare Musik. Erhaben. Aber jetzt setz' Dich bitte.
Du weißt doch, daß ich mich erst setze, wenn Du Platz genommen
hast."
Zakharov goß den Tee in eine kleine Tasse und reichte sie Raymond.
Die beiden Männer setzten sich und lauschten schweigend der Musik.
"Werden wir es schaffen?" Raymonds Stimme riß Zakharov aus seinen
Träumen. Er nippte an seinem Tee, bevor er antwortete.
"Die Menschheit ist wirklich erstaunlich ... unsere Vielseitigkeit, unser
Wissen. Wir wissen so viele Dinge ... wir spalten Atome, wir kennen die Folgen
beinahe jeder unserer Handlungen. Wir machen dies ... und jenes passiert."
"Ja", stimmte Raymond zu. Er war ein enger Freund Zakharovs geworden, weil
er wußte, wann es galt, nur zuzuhören.
"Doch das funktioniert nur in unseren Labors ... kontrolliert. Hier ... passiert
zu viel Unerwartetes. Wäre die Unity ein Labor ... und hättest
Du oder ich alles unter Kontrolle ... natürlich würden wir die
Unity retten. Doch es sind zu viele Menschen an Bord ... eine Rechnung mit
zu vielen Unbekannten. Niemand kann die Komplexität menschlicher
Beweggründe bis ins Letzte berechnen. Dies ist die letzte Herausforderung
der Wissenschaft, doch der menschliche Geist selbst lehnt sich gegen die
Kontrolle durch die Wissenschaft auf ... selbst wenn dies zu seiner
Zerstörung führt."
"Dieses Schiff ist ein perfektes Beispiel. Das Chaos bestimmt unser Handeln."
Er nickte und nippte erneut an seinem Tee. "Zu viele Gehirne waren am Bau
dieses Schiffs beteiligt. Es gibt keine Organisation und vieles ist dem Zufall
überlassen ... das alte Problem der Menschheit."
"Unreinheit", sagte Raymond ruhig.
"Ja. Unreinheit der Motive ... nicht Wissenschaft, nicht Forschung ... andere
Dinge treiben uns an. Ein Land hat die Unity gebaut, um seinen Menschen Hoffnung
zu geben, ein Land experimentiert mit den Geldern der U.N., nur weil ein
Politiker an der Macht bleiben möchte. Sollten wir jemals diesen Planeten
erreichen, muß sich einiges ändern."
"Was?"
"Ich will mich von wissenschaftlichen Tatsachen leiten lassen. Ich glaube
fest daran, daß wir alle glücklich sein können, wenn wir
nur der Wissenschaft vertrauen. Das muß auch die Crew akzeptieren."
Raymond nickte zustimmend. "Viele denken wie Du. Das Schiff ist voll von
denkenden Menschen, die die Freiheit des Geistes respektieren und nichts
mit Politik zu tun haben möchten. Viele Mitglieder der Crew teilen Deine
Ansichten. Ich hörte sogar Dr. Yang von einer kontrollierten Gesellschaft
nach Deinem Modell sprechen."
"Hmm. Ich spreche von einer Gesellschaft, in der ausschließlich
wissenschaftliche Wahrheiten die Menschheit leiten. Mit Yangs Utopien hat
das wenig zu tun."
"Dennoch könnte er sich als Verbündeter erweisen. Deirdres Leute
verbringen den Großteil ihrer Zeit im Treibhaus ... entspricht wohl
ihrer Natur." Raymond lächelte über seinen unbeabsichtigten Scherz.
"Gut, halte mich auf dem Laufenden, Raymond. Wir brauchen reine Gedanken
auf diesem Schiff ... reiner als der klarste Wodka. Ach, wo wir gerade beim
Thema sind
" Er setzte seine Tasse ab und brachte aus einer kleinen
Schublade eine Flasche Wodka zum Vorschein. Er lächelte, als er die
großen Augen Raymonds sah.
"Willst Du die jetzt aufmachen? Ich wüßte nicht, was es zu feiern
gibt."
"Warum nicht jetzt? Sollte es das Schiff nicht schaffen, will ich wenigstens
dieses Fläschchen genießen. Wäre doch schade um den guten
Wodka." Er schenkte zwei weitere Tassen ein.
"Was ist nur mit Deiner Zuversicht?"
"Der geht es bestens. Aber das hier wird sie noch unterstützen." Er
stürzte den Wodka hinunter und für einen kurzen Augenblick trat
ein zufriedener Ausdruck in sein Gesicht. "Außerdem werde ich mir den
letzten Schluck erst auf dem Planeten gönnen."
"Das ist der letzte Wodka der Welt. Vergiß das nicht." Raymond starrte
hypnotisiert in seine Tasse. Zakharov klopfte ihm auf die Schulter.
"Bald brennen wir unseren eigenen Wodka! Wir werden die Erde auf diesem Planeten
neu erblühen lassen ... allerdings unter einem neuen Blickwinkel ...
der Wissenschaft. Das hier ist der größte Forschungsauftrag der
Menschheitsgeschichte ... ein ganzer Planet!"
"Aber es wird kein Erden-Wodka sein. Das hier ist der traurige Rest. Ein
ernüchternder Gedanke."
Zakharov lachte. "Ironie des Schicksals, daß Dich der Wodka
ernüchtert. Trink", drängte er Raymond. Dieser nippte an seinem
Wodka. Entgegen seiner eigentlichen Art, wollte er den Drink wie Nektar
genießen. Zakharov beobachtete ihn.
"Versuche, nicht mehr an die Erde zu denken, Raymond. Du tust Dir damit keinen
Gefallen. Du wirst mir zu sentimental, mein Lieber. Es ist nicht immer gut,
seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Denken wir an die Erde und alles,
was wir verloren haben, stellen wir unsere Existenz in Frage. Konzentrieren
wir uns lieber auf die neue Welt, die vor uns liegt ... und auf das neue
Wissen, das uns dort erwartet."
"Vielleicht hast Du recht."
"Was uns bleibt, ist die Reinheit unseres Geistes. Laß uns optimistisch
in die Zukunft blicken, studieren und lernen. Nur so verfallen wir nicht
in Melancholie, sondern werden unsere hochgesteckten Ziele erreichen."
"Ja", sagte Raymond. Er fühlte die wohltuende Wärme des Alkohols,
als er erneut von seinem Wodka nippte.
"Wir werden das Schiff reparieren!" Zakharov sagte dies so plötzlich,
als antwortete er auf eine Frage, die nach langer Zeit wieder aus seinem
Unterbewußtsein aufgetaucht war. "Wir können es schaffen."
"Ja." Raymond hob seine Tasse. Die beiden Männer stießen miteinander
an und verdrängten alle düsteren Gedanken.
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